Es waren die größten und umfangreichsten Wahlen der mexikanischen Geschichte – und, da herrschte unter Mexikanern Einigkeit, wahrscheinlich auch die wichtigsten. Am vergangenen Sonntag waren im lateinamerikanischen Land 3.406 politische Ämter neu zu vergeben. 89,3 Millionen wahlberechtigte Mexikaner im In- und Ausland waren unter anderem dazu aufgerufen, ein neues Staatsoberhaupt zu bestimmen und über die Zusammensetzung des Kongresses zu entscheiden. Zusätzlich fanden in mehreren Bundesstaaten Gouverneurs-, Bürgermeister und Lokalparlamentswahlen statt.
Aus dem Superwahljahr 2018 ist am Ende Andrés Manuel López Obrador mit seiner Partei MORENA (Movimiento Regeneración Nacional) als klarerer Sieger hervorgegangen. Der 64 Jahre alte ehemalige Bürgermeister von Mexiko-Stadt hat es im nunmehr dritten Anlauf an die Spitze seines Landes geschafft. Und der Wille der Wähler war, das Ergebnis lässt keine andere Lesart zu, mehr als deutlich. AMLO, wie López Obrador auch genannt wird, erhielt knapp 53 Prozent der Stimmen und ließ seine drei Konkurrenten deutlich hinter sich. MORENA errang sowohl im mexikanischen Senat als auch im Abgeordnetenhaus die Mehrheit der Sitze. Die Partei stellt darüber hinaus in Zukunft in fünf der neun Bundesstaaten, wo entsprechende Wahlen stattfanden, den Gouverneur.
In den Monaten vor den Wahlen herrschte vor allem eine Gefühlslage vor: Die Mexikaner haben genug vom Status Quo und den unzähligen Problemen in ihrem Land: Armut, soziale Ungleichheit, die seit Jahrzehnten grassierende Korruption, der 2006 begonnene „War on Drugs“, der mehr als 200.000 Menschen das Leben gekostet und Unzählige aus ihrer Heimat vertrieben hat, die rivalisierenden Kartelle, der ewige Teufelskreis aus Drogen und Gewalt. Die Liste ist lang. Vor allem aber haben es die Mexikaner satt, dass niemand etwas daran ändert. Die PRI (Partido Revolucionario Institucional) nicht, die in Mexiko durchgehend von 1929 bis 2000 an der Macht war, Wahlen fälschte und ihre Macht unter anderem dadurch zementierte, dass amtierende Präsidenten ihre Nachfolger im Rahmen eines Rituals namens „dedazo“ bestimmten. Und auch die PAN (Partido Acción Nacional) nicht, die vor achtzehn Jahren in einem historischen Wechsel die Alleinherrschaft der PRI beendete, nacheinander zwei Präsidenten stellte und dennoch die großen Hoffnungen, die die Mexikaner in sie gesetzt hatten, enttäuschte.
Auch der noch amtierende Präsident Enrique Peña Nieto konnte keinen Wandel herbeiführen. Der 52-jährige PRI-Politiker kam 2012 ins Amt und warb für Transparenz, Korruptionsbekämpfung und ein Ende der Gewalt. Er wurde damals von vielen als jemand gesehen, der frischen Wind in die mexikanische Politik bringen und sich von der Vergangenheit seiner Partei lösen würde. Doch sechs Jahre später ist die Ernüchterung groß.
Ob unter Peña Nieto die Korruption noch schlimmer geworden ist als ohnehin schon, darüber gehen die Meinungen auseinander. Zumindest ist sie sichtbarer geworden. Justiz und Polizei sind weiterhin bestechlich und ineffizient. Aus den Kassen zweier Ministerien verschwanden Berichten zufolge umgerechnet 56 Millionen Euro. Geplante Straßen wurden nicht gebaut, weil plötzlich das Geld fehlte. Politiker der Regierungspartei PRI plünderten staatliche Fonds. Und der Chef der nationalen Wasserbehörde wurde dabei fotografiert, wie er mit seiner Familie in den Urlaub flog – und dabei einen Helikopter der Regierung benutzte. 14 aktuelle oder ehemalige Gouverneure sind wegen Korruption oder dringenden Korruptionsverdachts entweder in Haft, vor Gericht oder es wird gegen sie ermittelt. Peña Nieto selbst geriet in eine Korruptionsaffäre, als bekannt wurde, dass die Villa seiner Ehefrau zuvor einem Geschäftsmann gehört hatte. Dieser hatte dann wiederum von der Regierung zahlreiche lukrative Aufträge erhalten. Im Korruptionsindex von Transparency International ist Mexiko in den letzten Jahren um 30 Plätze gefallen und liegt jetzt auf Rang 135, gemeinsam mit Russland.
Auch den „War on Drugs“, den Felipe Calderón, sein Vorgänger im Amt, begonnen hatte, hat Peña Nieto nicht beendet. Letztes Jahr erreichte die Zahl der Morde in Mexiko mit 29.168 einen neuen Rekordwert. Der Mai war mit fast 2.900 Morden der gewalttätigste Monat in der Geschichte des Landes. Vor den Wahlen wurden mindestens 130 Politiker, darunter 48 Kandidaten für ein neu zu vergebendes politisches Amt, von Drogenbanden umgebracht. Die Täter werden in den allermeisten Fällen nicht gefunden. In Mexiko werden nur zwei Prozent aller Straftaten aufgeklärt.
Mexikaner wollen einen tiefgreifenden Wandel. Und den verkörpert niemand so sehr wie Andrés Manuel López Obrador, der verspricht, Korruption und Gewalt ein Ende zu setzen. Der linkspopulistische Politiker schimpft gegen die Elite und hat geschworen, die „Mafia der Macht“ zu stürzen. Vor allem den Armen will er durch Reformen und den Aufbau von Infrastruktur helfen. Viele Mexikaner sehen im volksnahen und als unbestechlich geltenden López Obrador die letzte Hoffnung für Veränderungen in ihrem Land. (( New Yorker: A New Revolution in Mexico; Artikel vom 25.06.18 ))
Viele Experten und Beobachter bemängeln jedoch seine teilweise vage Strategie. Vielfach scheint nicht ganz klar zu sein, wie López Obrador seine Ziele konkret erreichen will. „Er hat keinen besonders präzisen Plan“, sagt Pablo Piccato, Professor an der Columbia University. López Obrador sei allen Anzeichen nach ein sehr ehrlicher Mensch. „Aber was auf allen Ebenen der Bürokratie passiert, den lokalen Regierungen, den Regierungen der Bundesstaaten – das wird sehr schwer zu kontrollieren sein.“ Die ehemalige US-Botschafterin in Mexiko, Roberta Jacobson, die López Obrador mehrmals getroffen hat, sagt: „Was wir von ihm als Präsident erwarten sollen? Ehrlich gesagt ist mein stärkstes Gefühl ihn betreffend, dass wir nicht wissen, was zu erwarten ist.“ (( New Yorker: A New Revolution in Mexico; Artikel vom 25.06.18 ))